Zeiten der Vereinzelung
Zweitausendzwanzig, Ende April. Ein Schaden an der
Prothese. Ganz plötzlich am Freitagmorgen. Ich nehme das Fahrrad, fahre um die
Ecke zum Zahnarzt. An der Tür ein Zettel. „Bitte klingeln“ und „Behandlung nur
nach telefonischer Anmeldung“. Die Zahnarzthelferin, vermummt, öffnet. Ich dürfe
bleiben. Müsse Geduld haben. Solle draußen warten. Draußen vor der Tür.
Ich warte. Stehe vor der Tür und warte. Gehe fünf Stufen runter,
fünf Stufen rauf. Stehe draußen. Draußen vor der Tür. Ein Abzählreim
drau-ßen-vor-der-tür, hinunter, hinauf. Führt mich zurück. Fünfundsechzig Jahre
zurück.
Ich sitze in meiner Jenenser Studentenbude unter dem Dach
vor dem Radio. Hörspiel beim NWDR. Eine Wiederholung der Erstsendung von 1947. Beckmann,
der Kriegsheimkehrer, der Mann mit der Gasmaskenbrille, der Verzweifelnde, der
Verlassene, der Vereinzelte, der Suchende, der Fragende. Keine Antwort. Er kann
nicht sterben. Er kann nicht leben. Die Elbe will ihn nicht. Spuckt ihn wieder
aus. Der vollgefressene, rülpsende Tod streitet mit dem weinenden Gott. „Herr
Winkler, nicht so laut“, ruft die Wirtin. Meine erste Begegnung mit Wolfgang
Borchert.
„Herr Winkler, Sie können!“ Nach der Behandlung muss ich
mehrere Stunden den Mund halten.
Wolfgang Borchert, die Hundeblume
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