Sonntag, 10. Mai 2020


Zeiten der Vereinzelung


Zweitausendzwanzig, Ende April. Ein Schaden an der Prothese. Ganz plötzlich am Freitagmorgen. Ich nehme das Fahrrad, fahre um die Ecke zum Zahnarzt. An der Tür ein Zettel. „Bitte klingeln“ und „Behandlung nur nach telefonischer Anmeldung“. Die Zahnarzthelferin, vermummt, öffnet. Ich dürfe bleiben. Müsse Geduld haben. Solle draußen warten. Draußen vor der Tür.
Ich warte. Stehe vor der Tür und warte. Gehe fünf Stufen runter, fünf Stufen rauf. Stehe draußen. Draußen vor der Tür. Ein Abzählreim drau-ßen-vor-der-tür, hinunter, hinauf. Führt mich zurück. Fünfundsechzig Jahre zurück.
Ich sitze in meiner Jenenser Studentenbude unter dem Dach vor dem Radio. Hörspiel beim NWDR. Eine Wiederholung der Erstsendung von 1947. Beckmann, der Kriegsheimkehrer, der Mann mit der Gasmaskenbrille, der Verzweifelnde, der Verlassene, der Vereinzelte, der Suchende, der Fragende. Keine Antwort. Er kann nicht sterben. Er kann nicht leben. Die Elbe will ihn nicht. Spuckt ihn wieder aus. Der vollgefressene, rülpsende Tod streitet mit dem weinenden Gott. „Herr Winkler, nicht so laut“, ruft die Wirtin. Meine erste Begegnung mit Wolfgang Borchert.
„Herr Winkler, Sie können!“ Nach der Behandlung muss ich mehrere Stunden den Mund halten.



Wolfgang Borchert, die Hundeblume

 

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